Seit 2010 fährt Marc Digruber im Slalom-Weltcup, jedoch im Schatten der Siegläufer und Superstars. Trotzdem ist der 31-jährige Niederösterreicher gänzlich unverdrossen und motiviert. In seinem Job entscheiden eben Nuancen, erzählt er bei einem Spaziergang auf der Streif.
Die Szenerie ist schon reichlich ungewöhnlich. Mit einem ausgewiesenen Slalomspezialisten über die Kitzbüheler Streif zu wandern ist etwa so, als würde man mit Beat Feuz die Planai in Schladming besichtigen. Oder mit Max Franz den Chuenisbärgli in Adelboden. Und dass die prestigeträchtigste Abfahrtsstrecke im Weltcup Marc Digruber nicht kalt lässt, ist vor allem an den Schlüsselstellen zu spüren – an der Hausbergkante, im Steilhang oder inmitten der Mausefalle. „Man muss schon sehr speziell gestrickt sein, um sich da herunter zu hauen“, sagt der Stangenwaldprofi am Beginn der Steilhang-Ausfahrt, während sein Blick beinah kerzengerade nach oben fällt. Diese positive Verrücktheit, bei der Hahnenkamm-Abfahrt einmal selbst am Start zu stehen – wie es etwa sein „Branchenkollege“ Manuel Feller gerne möchte – fehlt Marc Digruber aber völlig: „Ich bleibe lieber am Ganslernhang“, sagt der Techniker.
Der 31-jährige Niederösterreicher kehrte jüngst aus der Papakarenz zurück und befindet sich seit Juni wieder voll im Training. Erholung gab es heuer also zwischen seinem letzten Rennen und der Rückkehr in sein „Büro“ kaum einmal: „Aber die Monate mit meinem Sohn waren immens wichtig – so etwas kannst du nicht nachholen.“
Seit 14. November 2010, als er in Levi an den Start ging, gehört Marc Digruber zu Österreichs Slalom-Mannschaft. Zehn Rennen umfasste seine Saison im Vorjahr. Hätte er nicht hin und wieder Lust auf mehr Disziplinen als nur Slalom? “Wenn ich an den Jänner denke, mit den Rennen in Zagreb, Adelboden, Wengen, Kitzbühel und Schladming, bin ich froh, nicht auch Riesentorlauf zu fahren“, sagt Marc Digruber, während er in Richtung Alte Schneise schaut: „Unglaublich dieser Mythos Streif … und die Strecke sieht auch im Sommer lässig aus.“
Aber zurück zum Slalom. Wie sehr hadert er damit, dass es nach fast neun Jahren im Weltcup noch immer nicht fürs Stockerl gereicht hat? „Es sind Nuancen, die fehlen“, sagt Marc Digruber, der freilich weiß, dass er keine Ausnahmeerscheinung wie ein Marcel Hirscher oder ein Henrik Kristoffersen ist. Er erklärt die Relationen: „Wenn du bei jedem Tor nur eine Hundertstel verlierst, hast du im Ziel sieben oder acht Zehntel Rückstand. Das ist nicht einmal eine Sekunde, aber in unserem Sport eine Ewigkeit.“ Für ihn geht es auch diesen Sommer wieder darum, die perfekte Abstimmung zu finden: „Das ist eine Kunst, aber ich orientiere mich an Schladming.“ Es war der 29. Jänner 2019 und Marc Digruber wusste, wenn er heute nicht liefert, verliert er seinen Startplatz unter den Top 30. Und dann hieße es im nächsten Rennen nicht etwa Startnummer 31, es könnte ihm auch 50 oder 60 blühen. „Dieser Druck scheint mich unbewusst beflügelt zu haben, denn ich bin in Schladming mein bestes Rennen der Saison gefahren und Siebter geworden. Diese Einstellung gilt es wieder zu finden.“
An die Zeit nach der Ski-Karriere denkt der Atomic-Fahrer noch nicht. Einerseits, weil er eine abgeschlossene Ausbildung zum Polizisten hat, andererseits, weil er nach wie vor seinen Traum leben darf: „Ich kann mir ein Leben ohne Skifahren nicht vorstellen.“ Und wie oft war der Skiprofi heuer privat auf der Piste? „Am 1. Jänner und Mitte Mai am Hochkar“, muss er nicht lange nachdenken.
Vorteil aus Hirschers Abwesenheit
Marc Digruber wandert die Streif übrigens nicht ganz zufällig nach oben. Wir befinden uns mitten im Medientag der ÖSV-Herren und bis auf einen großen Abwesenden sind alle Teamkollegen auch irgendwo auf den 800 Höhenmetern zwischen Zielhang und Starthaus unterwegs. Marcel Hirschers Ausnahmestellung spiegelt sich auch darin wieder, dass der achtfache Gesamtweltcupsieger seinen ganz eigenen Medientag hat. Dorthin kamen im Vorjahr 90 (!) Journalisten, auf der Streif sind es höchstens 20. Dass Hirscher beim allgemeinen Medientag der ÖSV-Herren fehlt, stößt unter den Teamkollegen auf Verständnis. Das größte Interesse der Journalisten würde in erster Linie dem Salzburger gelten und der – Jahr für Jahr – wiederkehrenden Frage, ob er aufhört oder nicht. „Ohne Marcel Hirscher können wir uns an einem Tag wie diesen auch besser verkaufen“, sagt Marc Digruber. Immerhin hat jeder Athlet seine ganz individuellen Sponsorenverträge und freut sich, wenn sein Foto irgendwo erscheint – „alles claro“?.
Die Streif fasziniert Marc Digruber dermaßen, dass er keine Sekunde überlegen muss, ob er die Mausefalle auf dem Wanderweg gemütlich umgeht, oder ob er sie direkt steil nach oben „erkraxelt“. Mitten im Gefälle kommt ihm ein „Bist du g’scheit, da is brutal steil“ aus. Er selbst hat sich an selber Stelle nur einmal für den Slalom am Ganslernhang eingefahren. Apropos steil: Zurück auf die Weltcup-Bühne geht es für Marc Digruber im November im finnischen Levi und da möchte er etwas klarstellen: „Oft heißt es, es sei die leichteste Strecke im Weltcup, dabei hat Levi den längsten Steilabschnitt von allen Slaloms.“ Und ebendort soll eine erfolgreiche Saison für den 31-Jährigen ihren Ausgang nehmen. Vor einem Jahr landete Marc Digruber auf Platz 18 und da geht freilich viel mehr.