Das Skigymnasium Stams im Tiroler Oberland gilt seit über fünf Jahrzehnten als Kaderschmiede für Österreichs Wintersport. 6000 Euro kostet die Eltern ein Schuljahr. Der sportliche Leiter Harald Haim spricht im Interview über die Aufnahmekriterien, die motorische Entwicklung der Jugendlichen seit 1994 und darüber, welche Lehren aus den Missbrauchsfällen im Internat gezogen wurden.
„Nichts für Mitläufer“, könnte in großen Lettern über dem Haupteingang des Skigymnasiums Stams stehen, denn für Durchschnittssportler ist in dieser legendären Ausbildungsstätte kein Platz. Und das ist schon unter den 14-Jährigen deutlich zu spüren. Auf die Frage, wohin ihn seine Skikarriere bringen sollte, antwortet Tobias Pittracher: „Ich will an die Spitze. Wenn ich nicht zu den Besten zählen wollen würd, wäre ich hier fehl am Platz“, sagt der junge Tiroler. Erstaunlich ist sein Vorbild. Nicht etwa Marcel Hirscher, übrigens kein Stams-Absolvent, sondern Ted Ligety. Auch Pittrachers Klassenkollegen Florian Winkler und Lorenz Kaufmann finden den Olympiasieger aus Utah „einfach cool“.
Eine riesige Hürde hat das Trio schon hinter sich gebracht: die Aufnahmeprüfung in Stams. Im Schnitt 50 Teenager bewerben sich jedes Jahr um die Ausbildungsplätze für Ski Alpin. 20 werden aufgenommen, zehn Burschen und zehn Mädchen. Ein Auszug aus den sportlichen Anforderungen: zwei Slalomdurchgänge und ein Riesenslalomdurchgang auf Zeit mit Renntechnikbewertung sowie ein Skigewandtheitslauf mit Super-G-Komponente auf Zeit und die Bewertung der koordinativen Fähigkeiten durch mehrere Trainer. Wie gut sollte ein Kind also sein, möchte es nach Stams? „Er oder sie muss Landeskaderniveau im österreichweiten Vergleich haben – das ist unsere Formulierung“, verknappt Harald Haim, Stams’ sportlicher Leiter, die Voraussetzungen auf einen Satz. Ein ausführliches Interview mit Harald Haim lest ihr hier.
Wer sein Kind in Stams weiß, der kann sicher sein, dass zumindest außerhalb des Internats im oberen Inntal keine verlockenden Ablenkungen lauern. Die Schule liegt direkt neben dem mächtigen Stift des 1600-Einwohner-Ortes. Action oder gar eine Partymeile sucht man hier vergebens. Im Norden wie Süden ragen die Berge steil nach oben, nach Innsbruck sind es 36 Kilometer ostwärts. Der nächstgrößere Ort im Westen heißt Imst. In Stams bleibt den Kindern also sehr viel Zeit für Körper und Geist.
Seit 51 Jahren dient Stams als Österreichs Kaderschmiede für den Skisport, Langlauf, Biathlon, Nordische Kombination sowie Skisprung und die Schüler haben (mit ihren Eltern) zwei Ausbildungsmöglichkeiten zur Auswahl: ein fünfjähriges Oberstufenrealgymnasium oder die vierjährige Handelsschule. Naturgemäß wird der sportlichen Weiterentwicklung vieles untergeordnet, am Ende steht jedoch die Zentralmatura, weshalb sich Stams’ Gymnasiasten am Ende ihrer schulischen Karriere auf demselben schulischen Niveau befinden sollten, wie der Rest von Österreich.
Die Verteilung auf die Sparten und Schulformen erklärt der sportliche Leiter Harald Haim: „Jedes Jahr nehmen wir 50 Neulinge auf – 30 in der Gymnasium-Klasse, 20 in der Handelsschule. Das Interesse am Gymnasium ist übrigens wesentlich höher als für die Handelsschule. Sportlich nehmen wir zehn Mädchen und zehn Buben im Bereich Ski Alpin auf. Die übrigen 30 verteilen sich auf Sprunglauf, Kombination, Snowboard, Langlauf und Biathlon.“ Die überschaubarste Anziehung auf die Kinder übt derzeit übrigens der Langlauf aus.
41 Mädchen und 41 Burschen zählen derzeit zum Skinachwuchs in Stams. Die sechs Gruppen werden von insgesamt zwölf Trainern gecoacht, darunter befindet sich allerdings nur eine Trainerin. Sie ist gleichzeitig auch die einzige unter allen 28 Coaches an der Schule. Ein Umstand, den auch Harald Haim sehr bedauert: „Wir wären sehr dankbar, wenn sich diese Quote ändern würde, tun uns aber schwer, geeignete Damen für unseren Job zu finden.“
Auf Schnee geht es für die Schüler allein schon im Herbst 30 Mal, im Winter selbst an zwei Vormittagen unter der Woche sowie nachmittags. Auf Schularbeiten und Tests wird während der Wettkampfsaison verzichtet. Der entfallene Unterricht wird durch verschiedene organisatorische Maßnahmen nachgeholt: So gibt es etwa vor und nach der Wintersaison samstags Unterricht und das Schuljahr dauert um eine Woche länger. Viel frische Luft atmen die Schüler aber nicht nur auf Österreichs Bergen. Die U16 durfte sich heuer über einen Schüleraustausch mit Vail freuen. Das heißt, die Teenager verlegten ihr Training zwei Wochen nach Colorado.
Seit 1994 trainiert Harald Haim am Skigymnasium Stams. Naturgemäß sind die Kids der 90er-Jahre nicht mehr mit jenen von heute zu vergleichen: „Grundsätzlich beobachten wir in einigen motorischen Eigenschaften einen Rückgang der Leistungen. Hochinteressant sind die Beobachtungen bei unserem Gewandtheitslauf in der Turnhalle, wofür wir alle Geräte aufbauen und die Kinder drüberklettern und drüberhüpfen müssen. Da sind die Kinder deutlich schlechter als früher“, erläutert Haim. Seine Erklärung: „Wenn ich zwei Stunden am Tag mein Handy nütze, habe ich zwei Stunden verloren, in der ich mich auch bewegen hätte können. Das klingt plakativ, ist aber so.“ Darauf hat auch das Skigymnasium längst reagiert. Vor Unterrichtsbeginn müssen die Handys am Lehrertisch abgegeben werden und für die jüngeren Schüler gilt am Zimmer ein Verbot von Spielkonsolen.
War Stams bis vor kurzem vor allem berühmt für legendäre Absolventen wie etwa Nicole Hosp, Anita Wachter, Stephan Eberharter, Benjamin Raich, Manuel Feller, Michael und Mario Matt u.v.a., so geriet man zuletzt auch durch die Vorwürfe des Machtmissbrauchs im Internat in die Schlagzeilen. Harald Haim stellt sich auch der Schattenseite seiner Schule: “Alle uns bekannten Vorfälle im Internat wie Mobbing oder das ,Pastern’ wurden immer schon von einer Disziplinarkommission abgehandelt. Das ist bis zur Zeit der Schulgründung Ende der 60er-Jahre zurückgegangen. Die fünf Ordner mit Disziplinarkommissions-Protokollen haben wir dem Landesschulrat zur Verfügung gestellt. Ca. 15 Fälle wurden an die Staatsanwaltschaft weitergegeben, die dann Ermittlungen aufgenommen hat. In einem Beispiel aus jüngerer Vergangenheit wurde ein Schüler im Zimmer gefesselt und die Fotos davon veröffentlicht. Darauf haben wir sofort reagiert und pädagogische Maßnahmen ausgesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat dann auch noch einmal ermittelt, aber strafrechtlich relevant war nichts.“
Die angesprochenen pädagogischen Maßnahmen reichen von mündlichen Verwarnungen bis zum Schulausschluss. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: „Sie reichen von Mobbing bis hin zum Missbrauch von Alkohol, Nikotin und Snus. Wir sind auch nur ein Spiegel der Gesellschaft und was sich in den neuen Medien abspielt, ist wirklich nicht leicht zu kontrollieren“, gibt Harald Haim zu. „Was für uns in der Diskussion auch sehr entscheidend ist: In der über 50-jährigen Schulgeschichte ist es zu keinen Situationen zwischen einem Lehrer und einem Schüler oder einem Lehrer und einer Schülerin gekommen.“
Für Harald Haim hat die Diskussion der letzten Monate aber auch etwas Positives: „Erst waren alle im Kollegium verunsichert, dann haben wir begonnen unsere Arbeit sehr kritisch zu reflektieren. Machen wir eigentlich alles richtig? Ich selbst hab heuer eine Trainingsgruppe mit vier Buben und zwei Mädchen. Ein Teil der Ausbildung ist individuelles Videostudium. Bis vor drei Jahren hab ich das mit den Schülern zu zweit in einem Raum gemacht, das passiert nicht mehr. Jetzt hocken wir uns mit dem Laptop irgendwo im öffentlichen Raum hin. Allein diese Sensibilisierung habe ich als sehr positiv empfunden.“
Zurück zum Sportlichen: Knapp 600 Euro kostet ein Kind der Besuch des Skigymnasium Stams. Zehnmal im Jahr. Und wie viele schaffen es in die Fußstapfen von Eberharter, Hosp und Co? „Etwa fünf Prozent gelingt der Sprung in den A-Kader“, sagt Harald Haim. Aber auch dessen ist sich der motivierte 14-jährige Tobias Pittracher sicher bewusst.