Seit 1994 ist Harald Haim Trainer am Skigymnasium Stams und fungiert als Sportlicher Leiter für alle Sparten: von Ski Alpin über Skisprung, Langlauf und Nordische Kombination bis Biathlon. Im ausführlichen Interview nimmt er zur beinah ungebrochenen Beliebtheit seiner Schule, den Aufnahmekriterien, den fehlenden weiblichen Trainern sowie dem Einfluss der Smartphones und den Missbrauchsfällen im Internat Stellung.
Herr Haim, ist der Andrang auf das Skigymnasium Stams ungebrochen hoch oder Wellen ausgesetzt?
HARALD HAIM: Er ist Wellen ausgesetzt. Speziell im Alpinbereich ist er leicht zurückgegangen. Das liegt auch daran, dass nach dem Vorbild Stams weitere Schulen entstanden sind. In Österreich gibt es noch einige weitere Ausbildungszentren. Die Ski Hotelfachschule in Bad Hofgastein, die von Marcel Hirscher und Anna Veith besucht wurde, dann die Ski HAK in Schladming, das Schigymnasium Saalfelden oder das TZW Waidhofen/Ybbs und im nordischen Bereich gibt es dazu noch das Ausbildungszentrum in Eisenerz, wo man einen handwerklichen Beruf erlernen kann.
Liegt der Rückgang im Alpinbereich auch daran, dass es weniger Eltern (und folglich auch Kinder) gibt, die Skifahren als etwa in den 70er- und 80er-Jahren?
HARALD HAIM: Nein, das glaube ich weniger. Einiges ist dem Geburtenrückgang geschuldet. Und es gibt viel mehr Privatinitiativen als früher – etwa Privattrainer und Rennschulen. Es ist eine Tendenz zu spüren, dass sich die Eltern bzw. Familien, die es sich leisten können, unabhängiger von institutionellen Ausbildungssystemen aufstellen.
Wie kann man sich so etwas vorstellen?
HARALD HAIM: Das heißt, die Eltern finden eine Schule, die ihrem Kind ermöglicht, für Training frei zu bekommen oder verzichten sogar auf ein zweites Standbein. Normale Schulen funktionieren natürlich nur, sofern er oder sie auch in der Schule ausserordentlich gut sind. Privattrainer können nicht nur ein tadelloses Training anbieten, sie sind zeitlich auch viel flexibler. Der Drang zur Individualisierung nimmt einfach zu. Es gibt ja auch das Vorbild Hirscher – das Ein-Mann-Team. Da wird aber vergessen, dass Marcel Hirscher genau so in einem Schulsystem groß geworden ist und sich erst mit seinen Erfolgen individualisiert hat.
Individualisierung als Erfolgsgarant?
HARALD HAIM: Wenn ein 20-Jähriger so talentiert ist und es ihm gelingt, ein individuelles Team um sich aufzustellen, dann ist das super. Aber daraus kann ich nicht automatisch schließen, dass ein 14-Jähriger so etwas braucht – das ist ein Denkfehler.
Wie verteilt sich das Interesse der Stamser Schüler zwischen Ski Alpin, Snowboard, Nordisch und Biathlon?
HARALD HAIM: Es ist eigentlich immer gleich. Jedes Jahr nehmen wir 50 Neulinge auf – 30 in der Gymnasium-Klasse, 20 in der Handelsschule. Das Interesse am Gymnasium ist übrigens wesentlich höher als für die Handelsschule. Sportlich nehmen wir zehn Mädchen und zehn Buben im Bereich Ski Alpin auf. Die übrigen 30 verteilen sich auf Sprunglauf, Kombination, Snowboard, Langlauf und Biathlon.
Jede Sportart findet jedes Jahr Interessenten?
HARALD HAIM: Langlauf hat es schon schwer, in dieser Sparte gibt es in Österreich aber auch mehr Ausbildungszentren.
Versucht man ab und zu Schüler zu überreden, doch die Sportart zu wechseln? Zum Beispiel einen nicht so starken Skifahrer für den Langlauf zu begeistern?
HARALD HAIM: Mit 14 ist es dafür fast schon zu spät. Am ehesten geht das noch zwischen Langlauf und Biathlon oder zwischen Nordischer Kombination und Skispringen.
50 Schüler werden in Stams pro Jahr aufgenommen. Bewerben sich immer genügend?
HARALD HAIM: Also weniger als 50 haben sich noch nie beworben und genommen werden die 50 Besten. Im Schnitt bewerben sich jedes Jahr etwa 50 Kinder für Ski Alpin und 20 bis 25 Springer/Kombinierer. Die Anwärter für Snowboard, Langlauf und Biathlon kennt man schon im Vorhinein. Da tauchen nicht überraschenderweise 15 Leute auf.
Wenn der Sohn oder die Tochter sagt: „Mama, ich möchte nach Stams!“ Wie gut muss das Kind in seiner Sportart sein?
HARALD HAIM: Er oder sie muss Landeskaderniveau im österreichweiten Vergleich haben – das ist unsere Formulierung.
Was ist das Schwierigste an der Aufnahmeprüfung im Bereich Ski Alpin?
HARALD HAIM: Die Aufnahmeprüfung ist relativ vielschichtig. Neben den sportmotorischen Tests verschaffen wir uns auch schifahrerisch ein relativ breites Bild. Das heißt Stanglfahren, Riesentorlauf, Super-G sowie eine Überprüfung der Technik. Unsere Trainer zeichnen sich aber insbesondere dadurch aus, dass sie ein Auge dafür haben, wie das in fünf Jahren aussieht. Denn eines ist klar: Wir wollen nicht beurteilen, was sehe ich da bei einem 14-Jährigen, sondern entscheidend ist, was kann aus dem 14-Jährigen in den nächsten fünf Jahren werden. Da gehören viele Dinge dazu und nicht nur die momentane Zeit im Riesentorlauf. Im Skispringen und im Langlaufen ist das ganz gleich. Wir sagen den Mädchen und Buben vor der Aufnahmeprüfung immer: „Zeigt uns was ihr könnt und wir versuchen zu sehen, was in fünf Jahren ist.“
Gelingt einem die sportliche Aufnahme, wie geht es dann weiter?
HARALD HAIM: Mit allen, die wir sportlich gerne aufnehmen würden, machen wir einen Mentalcheck. Da überprüfen wir schulische und kognitive Fähigkeiten sowie Arbeitsgedächtnis, Konzentration und – mittels Fragebogen – ihre Selbsteinschätzung als Sportler. Danach gibt es ein orthopädisches Screening und für manche auch noch einen schulischen Test.
Was ist denn die richtige Selbsteinschätzung für einen 14-Jährigen?
HARALD HAIM: Da gibt es kein richtig oder falsch. Auch beim Konzentrationstest lässt es sich nicht sagen, dass er Wert X haben muss. Allerdings haben wir den Eindruck, dass es schon hilfreich ist, wenn sich jemand gut konzentrieren kann. Die Gesamtbelastung aus der Kombination Sport- und Schulausbildung bringt schon einen gewissen Zeitdruck mit sich.
Hilft es einem 14-Jährigen, wenn er total von sich überzeugt ist?
HARALD HAIM: Ich glaube nicht, dass dieser übermäßige Ehrgeiz das Entscheidende ist. Wenn es von außen kommt, ist es sogar hinderlich. Weil der Druck irgendwann ins immense steigt.
Gibt es die Eltern nach wie vor, die einen übertriebenen Druck auf ihr Kind ausüben?
HARALD HAIM: Die gibt es vereinzelt schon noch. Es ist ja auch immer gut gemeint. Nur ist gut gemeint manchmal das Gegenteil von gut. Grundsätzlich muss man aber sagen, dass die Unterstützung der Eltern eine absolute Grundvoraussetzung für den Weg im Sport ist und in den meisten Fällen auch wunderbar umgesetzt wird.
Sie sind seit 1994 am Haus. Wie hat sich die Motorik der Kinder in dieser Zeit verändert?
HARALD HAIM: Grundsätzlich beobachten wir in einigen motorischen Eigenschaften einen Rückgang der Leistungen. Wir versuchen aber in der Zusammenarbeit mit den Vereinen und Landesverbänden hier dagegenzuwirken. Hochinteressant sind die Beobachtungen bei unserem Gewandtheitslauf in der Turnhalle, wofür wir alle Geräte aufbauen und die Kinder drüberklettern und drüberhüpfen müssen. Da sind die Kinder deutlich schlechter als früher.
Warum?
HARALD HAIM: Wenn ich zwei Stunden am Tag mein Handy nütze, habe ich zwei Stunden verloren, in der ich mich auch bewegen hätte können. Das klingt plakativ, ist aber so.
Was kann die Schule dagegen machen?
HARALD HAIM: Grundsätzlich versuchen wir aufzuklären und diesem Trend entgegenzuwirken. Die Handys müssen zu Unterrichtsbeginn am Lehrerpult abgegeben werden. Wenn die Klasse verlassen wird, dürfen sie es wieder mitnehmen. Und bei unseren jungen Schülern herrscht auf den Zimmern Spielkonsolenverbot.
Was kostet es die Eltern eigentlich ihr Kind die Schule in Stams besuchen zu lassen?
HARALD HAIM: Monatlich knapp 600 Euro und das zehnmal im Jahr. Für alles weitere kommt es darauf an, wie gut er daheim aufgestellt ist. Je nach Verein gibt es manchmal Zuschüsse für Material- und Trainingskosten oder andere Ausgaben. Bei uns sind 32 Trainingskurstage inklusive. Wettkampfeinsätze nicht. Aber wenn der Schüler zum Kader gehört, zahlt es der Skiverband oder der Skiclub.
Lässt es sich beziffern, wieviel Prozent der Stams-Absolventen es in den Spitzensport schaffen?
HARALD HAIM: Etwa fünf Prozent schaffen es in den A-Kader. In den Nachwuchskadern sind es deutlich mehr.
Wie sehr zeigten die Medienberichte über sexuelle Machtspiele unter den Schülern in den 80er- und 90er-Jahren Nachwirkungen?
HARALD HAIM: Alle uns bekannten Vorfälle im Internat wie Mobbing oder das „Pastern“ wurden immer schon von einer Disziplinarkommission abgehandelt. Das ist bis zur Zeit der Schulgründung Ende der 60er-Jahre zurückgegangen. Die fünf Ordner mit Disziplinarkommissions-Protokollen haben wir dem Landesschulrat zur Verfügung gestellt. Ca. 15 Fälle wurden an die Staatsanwaltschaft weitergegeben, die dann Ermittlungen aufgenommen hat. In einem Beispiel aus jüngerer Vergangenheit wurde ein Schüler im Zimmer gefesselt und die Fotos davon veröffentlicht. Darauf haben wir sofort reagiert und pädagogische Maßnahmen ausgesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat dann auch noch einmal ermittelt, aber strafrechtlich relevant war nichts.
Wie sieht in solchen Fällen die Konsequenz der Schule aus?
HARALD HAIM: Das geht von mündlichen Verwarnungen bis zum Schulausschluss. Die Gründe reichen von Mobbing bis hin zum Missbrauch von Alkohol, Nikotin und Snus. Wir sind auch nur ein Spiegel der Gesellschaft und was sich in den neuen Medien abspielt, ist wirklich nicht leicht zu kontrollieren. Was für uns in der Diskussion auch sehr entscheidend ist, dass es in der über 50-jährigen Schulgeschichte zu keinen Situationen zwischen einem Lehrer und einem Schüler oder einem Lehrer und einer Schülerin gekommen ist. Das ist für eine schulische Einrichtung schon sehr entscheidend.
Was hat die Diskussion bewirkt?
HARALD HAIM: Etwas Positives. Erst waren alle im Kollegium verunsichert, dann haben wir begonnen unsere Arbeit sehr kritisch zu reflektieren. Machen wir eigentlich alles richtig? Ich selbst hab heuer eine Trainingsgruppe mit vier Buben und zwei Mädchen. Ein Teil der Ausbildung ist individuelles Videostudium. Bis vor drei Jahren hab ich das mit den Schülern zu zweit in einem Raum gemacht, das passiert nicht mehr. Jetzt hocken wir uns mit dem Laptop irgendwo im öffentlichen Raum hin. Allein diese Sensibilisierung habe ich als sehr positiv empfunden. Dass ein Trainer während seines so genannten Erzieherdienstes im Internat allein mit 20 Mädels ist, kommt auch nicht mehr vor. Inzwischen gibt es immer zwei Trainer.
Gibt es eigentlich weibliche Trainer?
HARALD HAIM: Im alpinen Bereich gibt es zwölf Trainer, davon eine Dame. Und sie ist auch die einzige unter allen 28 Trainern an unserer Schule. Wir wären sehr dankbar, wenn sich diese Quote ändern würde, tun uns aber schwer, geeignete Damen für unseren Job zu finden.